Sonntag, 31. Januar 2016

von deinem leben

(ein text vom erwachsenwerden, vom älterwerden, vom leben)


du wirst an einem tag geboren, an dem es eigentlich nicht schneien sollte und es hat auch nicht geschneit

vielleicht gehörst du zu den unglücklichen menschen, die sich an ihre geburt erinnern können und den schnee sehen, der nur für sie sichtbar war

du wirst über zäune klettern und in fremde wohnungen fahren, später, manchmal, um dich zu verlassen

du erinnerst dich an den morgen nach dem morgen und wie dich jemand, der dir erschreckend nah war, nach dem frühstück fragte 

du wirst nach hause kommen
manchmal nach einem sturz mit dem fahrrad
manchmal zu spät, ganz absichtlich, und es kommen keine worte, die dich ermahnen –
und manchmal gar nicht, aber dann bist du schon älter und es interessiert eh niemanden, nur ob du ruhig bist dabei, dir die nacht abzuduschen oder nicht

du nennst dinge anders einschließlich dich selbst, nennst das eisen brett und das brett eisen, das wird sich auch nie ändern, nur die zeit, die du brauchst, um dich zu korrigieren, wird länger wie zeit eben länger wird 

du weißt noch von dem entscheidenden sonnenuntergang an dem see, der keiner war und von der musik dazu und vom ersten von vielen schlechten gedichten

du weinst zum ersten mal alleine und willst es nie wieder tun, aber das hast du schon vergessen bevor du alt wirst

du stehst einmal wach in der längsten nacht des jahrhunderts und hast die ewigkeit gesehen, warst der sonne beim untergehen noch nie so nah wie gestern und hast ein wenig später die ruhe gefunden, lag in der dusche, weil das der einzig logische schritt war

ab und zu hast du schmerzen
meistens liegst du dabei auf dem boden nachdem dir eine unwichtige person vom stechapfel erzählte
immer nachdem du abschied genommen hast (vor allem das eine mal für ein jahr und 37 tage und eine idee von lücken hattest)
und einmal nachdem die narbe am knie entstand, die erste von vielen und

du denkst manchmal darüber nach, das hinfallen, das liegen auf dem boden zu zählen und nicht die schritte

du siehst dabei zu wie viele geräusche lauter werden und entscheidest dich türen einzusetzen in jeden durchbruch und tagebücher abzuschließen

du kennst das gefühl, wenn ein arzt dir etwas sagt, das du verstehst, seit einem bestimmten tag, an dem du viel zu jung warst

du suchst dir die trauer woanders, nicht am küchentisch, lernst viele flaschen kennen und züge

dir passiert der tag, an dem du mit deiner besten freundin nach hamburg fährst und eine gitarre dabei hast und ihr einen song zusammen schreibt auf der fahrt zurück wohin auch immer und es um nichts geht
und das andere mal hamburg, als du eure eigene sprache erfunden hast
und das andere mal hamburg, das mit dem muskelfaserriss

du spielst spiele in irgendwelchen hütten und denkst an andere spiele und den knutschfleck zwei finger breit unter deinem linken knieferknochen

du fährst zum meer, siehst zu wie die wellen sich treffen in diesem einen ort in dänemark und ein paar jahre später und woanders wie sie brechen
und du weißt, dass dinge am schönsten sind kurz bevor sie brechen, alle – nur nicht das fremde kind und deine großmutter an weihnachten

du kommst an den moment an dem dein spitzname, den deine mutter dir gegeben hat, zu spitz klingt und bist genau dort wo es zuende geht, das mit deiner kindheit, und du trotzdem nicht das bessere kind wirst

du kennst nicht die differenz zwischen dir und ihnen, weißt nur, wie man unverrichterer dinge am elegantesten wieder geht

du gehst einmal durch den schnellsten regen des jahres dessen tropfen ein wettrennen mit der schwerkraft liefen und du jeden einzelnen angefeuert hast

du wirst deine erste liebe im zug finden auf dem sitz schräg gegenüber und du wirst wieder gedichte schreiben, nicht ganz so schreckliche, aber

du wirst auch niemals das dokument anlegen, das du du nennen willst und alle texte über ihn umfasst vom in medias res bis zum letzten mal im türrahmen stehen

du fragst dich wie vergeben ohne vergessen geht und diese zeit nimmt dich mit, nimmt dich mit – bis zum nächsten ankommen, da auf dem schiff dieser einen hafenrundfahrt damals im sommer

du fällst zurück in rollen, die du spieltest, als du schwierig warst. fällst zurück in die zeit und aus der zeit bis du gehst, wieder unverrichtet, gerichtet nur von dir

du sagst zu deiner großmutter „wir sehen uns nächstes jahr“ und willst zum ersten mal dabei nicht lügen

du hast angefangen vor ein paar jahren dir vorzustellen es sei vielleicht das letzte mal wie sie da steht auf ihrem balkon seit 46 jahren

in den ferien warst du manchmal da für ein paar tage – weißt du noch, wie dein kindersitz von ganz oben aussieht wie er da liegt in dem auto das später du fahren wirst, mit dem du alles verlässt und deine liebe, das erste von vielen malen?

jetzt wünschst du dir, dass du dich erinnern wirst, wenn du großmutterähnlich, nur ohne das großmutter vielleicht, im sessel sitzt, wie du jetzt an dich in der zukunft denkst, aber du wirst es nicht mehr wissen, weil du immer wieder das gleiche immer wieder das gleiche immer wieder das gleiche fragen wirst innerhalb von drei bis elf minuten und so vieles vergessen sein wird

deine kriegswunden gehen in keine geschichtsbücher ein aber du gewöhnst dir an, jede neue krankheit zu zählen, sie fein säuberlich aufzuschreiben wie eine todesliste, die man später abarbeiten muss – müsste

täglich stellst du die nervigste aller nervigen frage in alle räume, was im leben überwiegt: zufall oder schicksal? denn du weißt doch noch von der einen nacht, die nichts infrage stellte, als du den löwen ohne mähne trafst und alles ausreichte: ein kuss ein mund ein du; und von der begegnung danach, von der du auch jahre später nie erzählt hast

dir wird an einem schneesonntag im november klarwerden wie du um alles kämpfst nur nicht um dich und dann kommt die zeit mit vielen schatten, aber nicht so normaler schatten, sondern eher einer wie der schatten mordors, der sich auf ganz mittelerde legt, oder vielleicht doch eher wie der schatten von peter pan, der dir ständig davonläuft und viele leute aufweckt?

viele winter später denkst du an diesen einen tag im sommer, der so heiß war, alle beteten den ventilator an und der kleine neue lag nebenan im schlaf und du irgendwo zwischen zitronenkuchen und aschenbecher und dann verstanden hast, dass du dich nie für eins entscheiden musst und dir in einer kurzen pause, als alle anderen miteinander sprachen, schwörst es nie zu tun, denn anders geht es eh nicht im leben

lange vorher war schon der tag, als du das wachsen in erwachsen entdecktest und dich erst gefreut hast über den zufälligen knochenfund, nur um kurz danach enttäuscht zu sein, dachtest du doch schließlich immer, es hieße er wächst und du schließlich feierlich beschlossen hast, dem wort nur noch mit missachtung zu begegnen, zumal es so gesehen eh etwas sehr phallisches hat

du freust dich, wenn mal keine post im briefkasten ist, das ist ein guter tag, denn es bleibt dir dann erspart kleingedrucktes zu lesen; selbst das großgedruckte bleibt dir unzugänglich: amt hier amt da und irgendwas mit – ja mit was denn nochmal – du vergisst dinge, die so weit weg von deiner welt liegen, so lange bis dir der zitronenkuchen in deinem ofen wieder einfällt

einmal vor einem mehr oder weniger langen zeitraum war da plötzlich einer vor dir jenseits von zeit, er zeigte dir, wie lange die lust am leben geht und du weißt wie er mit ungekämmten haaren aussieht und wie er später ohne haare aussieht

als ihr euch das übernächste mal saht, dieses mal zu einer bestimmten zeit, gab er dir nähzeug, so ein kleines set, für deinen schatten, damit du weniger unfertig bist

keine sorge, es dauert nicht mehr lange, bis alles beginnt
bis du beginnst
du wirst der anfang deiner geschichte sein
und du wirst das ende meiner geschichte sein

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