Sonntag, 24. April 2011

Tapferkeitsmedaillen post mortem.


Gestern war ich in einer kleinen Großstadt irgendwo zwischen Weser und Meer. Es war ein schöner Tag und das Wetter war gut. Und auf Wunsch derjenigen, die die Inspiration für meinen zweiten Vornamen war, ging’s zum Friedhof. Normalerweise halte ich mich eher selten auf Friedhöfen auf. Vor gestern war ich das letzte Mal im Herbst auf einem Friedhof, mit dem Windtypen. Naja, aber sonst gehe ich nicht so oft dahin. Und wenn ich an Orten bin, an denen ich mich normalerweise nicht aufhalte, dann beobachte ich. Ich beobachte und denke. Das habe ich gestern auch gemacht. Beobachtet. Dann sind mir Dinge aufgefallen. Und dann habe ich nachgedacht.

Das war ein ziemlich großer Friedhof, soweit ich das beurteilen kann. Wie es dort üblich ist, befinden sich dort Gräber. Ziemlich viele Gräber. Und auf den Steinen stehen kunstvoll eingravierte Dinge, die für Jedermann zugänglich sind. Auch für mich demnach. Ich habe das beobachtet und dabei fiel mir auf, dass es viele Gräber gibt, wo Ehepaare gemeinsam begraben liegen. Ich finde das irgendwie romantisch. Und dann habe ich genauer hingesehen und dabei ist mir aufgefallen, dass die Männer oft sehr viel früher und die Frauen oft sehr viel später gestorben sind. Ein Grab blieb mir besonders in Erinnerung. Ich nenne sie mal Heinrich und Käthe. Heinrich und Käthe wurden beide kurz nach 1900 geboren; ich glaube, er war drei Jahre älter als sie. Und dann sah ich mir die Todesdaten an. Heinrich starb 1964, und Käthe im Jahr 2000. Das heißt, wenn ich richtig gerechnet habe, war Käthe noch 36 Jahre alleine und lebendig auf der Welt. Bei Heinrich und Käthe war das die längste Zeit, die mir auffiel. Aber Käthe war nicht die einzige Frau, die ihren Mann überdauerte und noch lange alleine und verwitwet war. Und dann geriet ich ins Grübeln. Plötzlich habe ich mich gefragt, wie Käthe und all die anderen Frauen das ausgehalten haben. In meiner rosaroten Traumwelt gehe ich davon aus, dass all diese Ehepaare unheimlich verliebt ineinander und immer glücklich miteinander waren. Und dann geht einer, und man weiß, dass man noch Jahre und Jahre auszuhalten hat. Ich frage mich, wie sie mit diesem Verlust ihres Geliebten fertig geworden sind, und wie es mit der Einsamkeit stand. Ob Käthe und die anderen Frauen sich abgelenkt haben, wie es ihnen ging, und was sie all die Jahre ohne ihre Männer so gemacht haben. Und wie sie das überhaupt ausgehalten haben. Wie hat Käthe es ausgehalten, 36 Jahre ohne ihren Mann zu leben? War es das Wissen, dass sie später wieder neben ihm liegen würde, wie früher? Das alles frage ich mich. Und noch viel mehr. Ich frage mich, wie wohl ihre Leben ausgesehen haben. Davor und danach. Wie ihr Alltag war. Ob sie alles hinbekommen haben. Ob sie immer wieder an ihn denken mussten. Wie sie das einfach geschafft haben, verdammt. Aber irgendwie scheinen sie es ja geschafft zu haben, sonst hätte Käthe nicht noch 36 Jahre Leben gehabt. Ich hoffe, dass sie noch ein gutes Leben hatte, dass sie trotzdem einen Grund zum Atmen hatte. Ich weiß nicht, wie ich mit solchen Situationen klarkommen könnte. Wenn überhaupt. Und deshalb habe ich großen Respekt vor Käthe und all den anderen Frauen. Ich bewundere sie für ihr Durchhaltevermögen. Und deshalb vergebe ich Tapferkeitsmedaillen post mortem. Auch, wenn sie sie schon viel früher verdient hätten. Ja, sie haben sie echt verdient, diese Tapferkeitsmedaillen. Alle Frauen. Und Käthe.  

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