Ich bin kein Kind einer Musikerfamilie. Nie gewesen. Aber ich war ein Kind, das Musik machen wollte. Und das wurde ich. Warum auch immer wollte ich Geige lernen, als ich sechs Jahre alt war. Äh, jung war. Und ich habe es gelernt. Es wurde sowas wie Talent entdeckt, viel Geld ausgegeben, viel Zeit draufgegangen für mein Hobby. Leute sagten mir, wie gut ich sei. Ich machte Wettbewerbe mit und gewann Preise. Als ich dann mit elf ein Orchestervorspiel hatte und auch tatsächlich genommen wurde, habe ich realisiert, dass ich in der Tat sehr gut war in dem, was ich da machte. Obwohl ich Verbündete fand, war ich immer anders. Diese Blicke in der Schule, weil man sowas macht, unerträglich. Sportskanonen wurden immer gefeiert. Du spielst Geige? Wie unkuhl. Hälst dich wohl für was Besseres, ne. Und JA, ich hielt mich für was Besseres. Weil ich gut war.
Und je besser ich wurde, desto mehr ging ich darin auf. Die Musik, das Geigen, all das wurde zu meiner Leidenschaft. Der Takt wurde zu meinem Puls und ich sah mein Schicksal darin. Meine Berufung: Mein Talent zum Beruf machen. Ich fühlte mich sicher, dachte, ich sei gut (das war ich ja auch) und ich finde später Arbeit damit.
Während andere in meinem Alter Pläne für die Wochenenden schmiedeten, plante ich Zugfahrten zu den Proben, machte die Fingersätze für den zweiten Satz, malte ich mir die Zukunft aus: auf Bühnen im Orchester.
Und die Wochenenden: viele in der großen Stadt. Immer gerade sitzen. Volle Konzentration. Rückenschmerzen. Und danach, in der Schule. Wie oft wurde ich gefragt „Ist das etwa ein Knutschflääääääck?“ „Nein“, sagte ich. Meistens. Und dann: „Von weeeeem ist der denn?“ „Von meiner Geige“, sagte ich damals. Während die Mädels sich an den Wochenenden in schummrigen Schuppen Knutschflecke verpassen ließen, tauschte ich Intimitäten mit meiner Geige, presste sie an mich, bis mein Hals ganz wund war. Und pflegte abends im Bett jene Wunden, während die Mädels bestimmt gerade bei der siebten Flasche Apfelkorn waren.
Trotzdem hatte ich eine normale Jugend, mit den ersten Feiereien und allem. Und ich hatte auch faule Tage. An denen war ich müde oder hatte einfach gerade mal kein Bock. An eine dieser Wochen erinnere ich mich. Ich war faul, kam zum Unterricht, ungeübt. Ein bisschen Ärger gab’s da. Mein Gewissen war schlecht. Und deshalb übte ich am nächsten Tag. Nicht bis zum Umfallen, aber bis meine Hand umfiel. Einfach weg. Die ersten Symptome. Wenige Tage später, Orchesterproben. Danach ging nichts mehr. Schmerzen, Hand, Daumballen, Unterarm. Nach Hause. Gewissen: noch schlechter. Ich wollte mitspielen. Spielverbot vom Arzt. Diagnose: Sehnenscheidenentzündung. Die eine Woche Spielverbot, irgendwie habe ich sie ausgehalten. Und dann ging’s weiter, aber die Schmerzen nicht weg. Arzt, Arzt, Arzt. Weitere Untersuchungen. Manches wurde verdächtigt. Andere Ärzte. Stromschläge in meine Hand. Zeit messen. Und dann bestätigte sich alles. Und ich habe gelernt: Der Teufel hat einen Namen. Er heißt Karpaltunnelsyndrom. Schiene tragen. Für Wochen. Ich erinnere mich, wie ein Arzt zu mir sagte: „Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Wenn Sie das mal beruflich machen wollen, also, DAS können Sie vergessen mit Ihrer Hand.“ Da war ich vierzehn oder so. Jung. Zu jung für solche Worte, auch wenn ich im Nachhinein sagen muss, dass diese Aussage der Realität entspricht. Aber ich war zu jung. Nicht irgendeine Welt brach zusammen, es war meine. Ich kann mich kaum erinnern an damals. Aber ich erinnere die Tränen auf der Busfahrt. Die Frage nach dem: Was mach ich jetzt? Und: Werde ich wieder so wie früher? Plötzlich hatte ich so viel Zeit. Und Schmerzen. Trotz des absoluten Stillstands meines linken Arms. Trotz der Schmerztabletten. Trotz allem. Ich war hilflos. Und ich war doch noch so jung. Niemand in dem Alter sollte auf Hilfe beim Anziehen angewiesen sein. Und wütend war ich auch. Auf meine Nerven, die nicht so wollten wie ich. Diese Wut. Immer die Frage: warum ich? Warum nicht jemand, der seine Hände nicht mehr braucht? Oder dem seine Hände scheißegal sind? Warum gerade ich. Die Antwort suche ich noch heute.
Meine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Dann kam die Regeneration. Die Reintegration meines linken Arms. Ich fing nochmal von vorne an. Lernte die alte ungarische Schule. Ich war verzweifelt. Ich war so gut und plötzlich strich ich wieder leere Saiten. Wie mit sechs, damals. Verzweiflung. Dieses Mal: Tränen im Zug. Aber ich spürte, wie es wieder bergauf ging. Wie ich noch besser wurde. Noch besser.
Es lief gut. Professionell. Immer besser. Meine Hand hat mitgemacht. Eine Weile. Aber irgendwie geriet ich in eine Zeitschleife, und alles fing wieder von vorne an. Arzt, noch mehr Ärzte, Schiene, warten. Aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich hatte keine Energie mehr zum Heilen. Ich habe resigniert. Wiederbelebung war einfach nicht drin. Diese Schmerzen, schon wieder. Sie sind die gemeinsten, hinterhältigsten, die ich je hatte. Und alles war dunkel. Was sollte ich denn jetzt noch tun? Meine Luft zu Atmen nahm man mir. Ihr kennt das bestimmt: Wenn man ganz arg verliebt ist, wacht man morgens auf, dreht sich um und öffnet die Augen, um diesen einen besonderen Menschen neben sich liegen zu sehen. Er ist der Grund, warum du aufwachst. Und ich, ich wachte und stand auf, um mich geigen zu hören. Ich war in mein Spiel verliebt. Aber ich konnte es nicht hören, weil ich nicht spielen konnte. Und das tut heute noch weh.
Ich fing wieder an, und es ging, aber ich wurde nie wieder so gut. Ich habe versucht, mich so zu akzeptieren. Aber wie soll man sich selber akzeptieren, wenn das, was einen jahrelang ausgemacht hat, weg ist, und man letztendlich keine Ahnung hat, wer man eigentlich ist? Ja, ich finde es traurig, dass ich nie wieder so gut wurde. Und so habe ich auch immer weniger gespielt. Dafür entschuldige ich mich bei meiner Geige. Aber ab und zu habe ich gespielt. Immer auf einem Level, niemals besser, ich habe es gehasst. Und gleichzeitig das Spielen geliebt. Und immer wieder zwischendurch Schmerzen. Eine Stunde reicht schon. Und dann zittert meine Hand, alle Finger, ich spüre keine Muskeln mehr und würde niemals mit links ein Glas halten. Ich hatte immer Angst vor Scherben.
Was das alles bedeutet, was das alles kaputt gemacht hat, habe ich erst in letzter Zeit begriffen. Ganz ehrlich, ich weiß, das klingt so klischeebeladen: Mein Traum wurde zerstört. Meine Leidenschaft, mein Grund zum Aufstehen, mein Schicksal. Noch heute spüre ich das, und nein, das sind keine Phantomschmerzen. Und manchmal vergieße ich ein paar Tränen für meine Vergangenheit, für mein altes Schicksal. Mitleid brauche ich nicht, nur ein bisschen, vielleicht. Was ich brauche: Verständnis. Dafür, dass ich manchmal (scheinbar) grundlos traurig bin. Verständnis dafür, dass ich mal ein anderes Leben hatte. Und dass das immer noch in mir steckt, irgendwo, wo auch immer, zumindest nicht in meinem linken Handgelenk.
Man sagt doch auch über Tänzer, dass deren Karriere mit, hmmm, 25 oder so vorbei, am Ende, finito sei. Tja, so lange hab ich’s nicht mal geschafft. Aber zum Glück habe ich ja noch meine rechte Hand.
Hallo Herdis
AntwortenLöschenHabe deinen Gedichtband gelesen und fine ihn sehr interessant. Auch wie Ihr ihn gestaltet habt,war sehr neu für mich. Die Zeichen finde ich irgendwie genial. Damit man weiss wer was geschrieben hat. Aber das Du Geige spielst, habe ich gar nicht gewusst. Kann man was davon hören ?
Vielen Dank!
AntwortenLöschenNee, da gibt's nicht wirklich viel zu hören, bloß ein paar Live-Mitschnitte vom Orchester früher. Und: Seit kurzem spiel ich mit im Uni-Orchester, da sind Ende Mai die ersten Konzerte :)
Lass Dich mal drücken, Kleine Schwester! :-*
AntwortenLöschenIch hab Dir IMMER gern zugehört und war unglaublich stolz auf Dich. Und jetzt? Bin ich's immer noch.